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Works

Jane Doe

Jana MüllerJana MüllerJana Müller
Jana Müller. Archäologie des Verbrechens

Reliquiengleich präsentieren sich die alltäglichen Kleidungsstücke der Arbeit Jane Doe (2015) auf dem akkurat rechteckig geschnittenen, dunklen und nahezu ebenerdigen Sockel, die sorgsam von schützendem Glas bedeckt werden. Der auffällige Gegensatz von dem geringen materiellen Wert der Textilien zu ihrer exponierten Stellung mit seiner bewahrenden, gläsernen Oberfläche offenbart die übergeordnete Bedeutung des industriell gehäkelten Sommerkleides, das aus aneinandergeknüpften altrosa und weißen Blüten mit gelben Dotter, durchsetzt von lindgrünem textilen Blattwerk, besteht. Noch deutlicher zeigt sich diese Diskrepanz der drei teilweise beschädigten Strumpfhosen, die sich sorgsam drapiert unmittelbar daneben befinden. Jeweils eine Farbnuance der floralen Elemente des Kleides aufgreifend, liegen sie leicht versetzt übereinandergeschichtet und sind durch einzelne Glasscheiben voneinander separiert. Diese Segmentierung bewirkt eine assoziative Verschiebung vom aufgefundenen Gebrauchsgegenstand über eine pseudoikonische Verehrung als vermeintliche Berührungsreliquie [*] hin zum forensischen Beweisstück.
Mittels kleiner formaler Interventionen enthebt die 1977 in Halle/Saale geborene Künstlerin Jana Müller den Gebrauchsgegenstand seiner eigentlichen Funktion und transformiert ihn zum Ausstellungsexponat und noch stärker zum Bedeutungsträger. Indem die Wahlberlinerin den Gegenstand zunächst entkontextualisiert, eröffnet sie die Ebene für eine sensibilisierte Neubetrachtung, während die inszenatorische Präsentation auf seinen besonderen Stellenwert verweist. Plötzlich nimmt der Betrachter die genaue Position der Kleidungsstücke und stärker noch ihre äußere Anordnung wahr. Obwohl die durchsichtigen Glasscheiben einen Blick auf das gesamte Arrangement erlauben, ist es ihre trennende Funktion, die maßgeblich die Suggestion eines kriminalistischen Tatorts erweckt. Kleid und Strumpfhosen fungieren als transponiertes pars pro toto des menschlichen Körpers, in dem deren zunehmend gewaltvoll erscheinende Drapierung das Exponat zum Asservat wandelt.
Indem Jana Müller den Kleidungsstücken (erstmals) eine auf Glas gedruckte Fotografie aus einem amerikanischen Pressearchiv hinzufügt, erweitert sie das imaginative Spiel kriminalistischer Assoziationen und weist gleichsam auf den medialen Einfluss hin, der die Ausdeutung der Exponate maßgeblich steuert. Ohne die Fotografie oder ihr Genre bewusst wahrzunehmen, sind es zunächst Motiv und Platzierung, die dem Kleid eine konkrete Trägerin zuzuordnen scheinen. So ist der Oberkörper einer weiblichen Person auf der Fotografie anatomisch derart angeordnet, als trüge sie das Kleid. Die Glasscheiben ermöglichen dabei eine Verschmelzung von Aufnahme und Objekt, was die erste Illusion eines kriminalistischen Schauplatzes durch ein vermeintlich liegendes Tatopfer stärkt. Wie der Titel Jane Doe, der im amerikanischen Sprachgebrauch eine fiktive oder nicht identifizierte weibliche Person bezeichnet, bereits nahelegt, ist auch die Dargestellte auf der Fotografie bei Jana Müller nicht zu erkennen. Verhüllt durch Tuch oder Mantel verbirgt sie ihr Antlitz vor neugierigen Blicken. Dabei verschwimmen die medialen Textilien mit dem rosafarbenen Innenfutter des geblümten Kleides, das sich, nach außen gestülpt, um den Kopf der Dargestellten windet. Die nach außen gedrehte Innenhaut des Kleides ist ihrer Schutzfunktion beraubt, was ebenso wie die deutliche Beschädigung der obersten Strumpfhose den Eindruck von latenter Gewalt evoziert, die von dem Exponat auszugehen scheint. Dennoch ist es der Rezipient, der durch sein medialisiertes Bildergedächtnis die subtil-suggestive Arbeit zum Tatort montiert.
Auf der Suche nach dem Ausgangspunkt von Erinnerungen setzt sich Jana Müller auch in dem Werk Man and Woman (2015) mit Archivmaterial der 1950er Jahre aus Hollywood auseinander. Die aus Sicht von Pressefotografen aufgenommenen Schwarzweiß-Fotografien zeigen verschiedene Szenen von Beklagten vor sowie während ihrer Überführung in den Gerichtssaal oder darin wartend. Die Künstlerin vergrößert die historischen Pressebilder, in denen die Dargestellten versuchen, ihre Identität durch Bedecken ihrer Gesichter zu schützen, und druckt sie u.a. direkt auf Glas. Diese annährend lebensgroßen Formate führen den Betrachter vom Bildgegenstand weg und machen die Schaulust zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtung. Denn weder offenbaren die vergrößerten Aufnahmen die Art des mutmaßlichen Verbrechens noch enthüllen sie die jeweilige Identität der Abgebildeten. Vielmehr suggerieren sie dem Betrachter durch die stereotypen Aufnahmen ein Gefühl der Vertrautheit und die Verheißung auf Enthüllung, in der Regel durch die textuelle Untermalung von journalistischer Seite. In diesem Zusammenschluss wird die singuläre Fotografie in einen konkreten (Tat-)Zusammenhang gestellt und das Bild gewissermaßen entschlüsselt. Das Fehlen dieser Information wirft den Betrachter zurück auf die Wahrnehmungsebene und befragt den eigentlichen Bildgegenstand. Was ist tatsächlich dargestellt, und ab wann beginnt die mediale Sozialisation zu wirken?
In der Arbeit Man and Woman (2015) verleiht Jana Müller den originär statischen Aufnahmen überdies einen filmisch anmutenden Bewegungsmoment, indem sie drei bedruckte Glasscheiben mit identischem, jedoch leicht versetztem Motiv hintereinander stellt. Je nach Perspektive erscheinen die abgelichteten Personen – ein Mann und eine Frau, die beide ihr Gesicht vor dem Kameraauge verbergen – relativ deutlich, um beim kleinsten Standortwechsel in der scheinbaren Bewegung zu verschwimmen. Trübt die besondere Art der Präsentation den fotografischen Gegenstand oder ist es der Betrachter selbst, der je nach Standpunkt die Sicht darauf verändert? Jana Müller vertieft die Frage nach der Rolle des Betrachters innerhalb seiner medialen Prägung, indem sie die der Bewegung innewohnende Narration formal visualisiert.

[*] Gegenstände oder Kleidungsstücke, die von Heiligen berührt wurden.

2015 , Objekt, Glas, Textil, bedruckte Glasscheibe , 86 cm × 110 cm × 7 cm , Ausstellungsansicht "Dear Darkness", Michael Fuchs Galerie, Berlin

Man and Woman

Jana MüllerJana Müller

Der amerikanische Journalist und Medienkritiker Walter Lippmann wies 1922 in seinem Werk Public Opinion[1] darauf hin, dass der Mensch bereits eine von Erziehung geprägte medial vermittelte Vorstellung von Welt besitzt, noch bevor er einen Seh- oder Erlebnishorizont entwickelt hat. Lippmann betont insbesondere den Einfluss der Massenmedien, die durch Auswahl, Reduktion, Häufigkeit und Wiederholung die individuelle Wahrnehmung und Bewertung der Umwelt zu einem großen Teil beeinflussen und steuern[2]. Dabei suggerieren sie in bestimmten Formaten wie Zeitungen, Fotografien oder Dokumentarfilmen einen vordergründigen Grad an Objektivität sowie Authentizität, die subversiv die Bilder im Kopf entwickeln, leiten und manifestieren, welche zwar nicht der Realität entsprechen, diese jedoch zunehmend ersetzen.[3]
Durch die Aneignung und Übertragung der Pressefotografien in den Ausstellungsraum sowie ihre formale Überhöhung und den narrativen Impetus durch die filmische Bewegung offenbart Jana Müller die mediale Infiltrierung, in der sich Fiktion und Faktisches zu einer niemals endenden Geschichte zusammenschließen.
 
Den konstatierten prozessualen Akt gibt die Künstlerin dramaturgisch vor und beweist die von Ernst Gombrich beschriebene Erwartungshaltung an Medium und Stil eines Werks. An Edward C. Tolmans und Egon Brunswiks Idee des „Adaptionsniveaus“[4], die neben den bekannten Faktoren von kultureller Prägung, Konvention und Erfahrungswert eine stilbedingte Erwartungshaltung impliziert, knüpft auch Gombrich argumentativ an. „Genau wie eine Kultur oder eine Weltanschauung erzeugt auch ein Stil ein System von Erwartungen, eine Einstellung, die gegenüber Abweichungen und Modifikationen geradezu übertrieben empfindlich ist. [...] Wir nähern uns einem Kunstwerk mit vorweg eingestelltem ‚Empfangsapparat’. Wir erwarten ein bestimmtes System von Zeichen und Konventionen und sind darauf vorbereitet, sie aufzufassen und zu deuten.“[5] So stellt bereits der Stil, also das Medium und seine (formale) Umsetzung, vergleichbare Erwartungshaltungen an ein Werk wie die kulturelle Prägung. Dabei konstituiert sich das Adaptionsniveau durch die individuelle Erfahrung und Erinnerung, die je nach Umfeld und gesellschaftlicher Prägung variiert und somit die Unterschiede in der Wahrnehmung erklärt.
Jana Müller begibt sich auf Spurensuche und legt gleichzeitig imaginative Fährten. Sie erfindet und erzählt Geschichten, lockt den Betrachter und negiert die eindeutige Auflösung. Sie seziert den Gegenstand, legt ihn einer Laborprobe gleich unter Glas und verweist dabei auf die Leerstellen, auf das Off. Der Rezipient wird durch Jana Müller zum Zeugen und Täter, je nachdem, was unter der eigenen Oberfläche lauert.

Nadia Ismail, 2016

[1] Lippmann, Walter: Public Opinion. New York 1922. Deutsche Ausgabe: Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. In der Reihe Bochumer Studien zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Hrsg. von Heinz-Dietrich Fischer. Band 63. Bochum 1990. Darin führt Lippman erstmals den Begriff des Stereotypen in den sozialwissenschaftlichen Diskurs ein. Der Begriff Stereotyp ist nicht eindeutig definitorisch festgelegt, sondern erhält je nach Kontext eine leicht variierende, übergeordnete Ausdeutung. Namentlich geht der Sterotyp auf das Jahr 1798 zurück, als Bezeichung für ein neues Druckverfahren, in dem das Herstellen und Ausgießen von preiswerten Matrizen (Matern) die Mehrfachverwendung für die Stereotypenplatte erleichtert. Vgl. u.a. Petersen, Lars-Eric/ Six, Bernd: Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Weinheim, Basel 2008, S. 21.
[2] Lippmann [1922], S. 228; Deutsche Ausgabe Fischer [1990], S. 241.
[3] Vgl. Sielschot, Stephan: Stereotypen-Framing – Eine theorienintegrative und interdisziplinäre
Analyse der Zeitungsberichterstattung über marginalisierte soziale Gruppen. Phil.Diss. Marburg 2012, S. 24–28.
[4] Vgl. Tolman, Edward C./Brunswik, Egon: The organism and the causal texture of the environment, in: Psychological Review 1935, Vol. 42. No. 1. S. 43–77. Nach Zschocke, Nina: Der Irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit. München 2006, S. 31.
[5] Gombrich, Ernst: Kunst und Ilusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart, Zürich 1978 (Erstausgabe 1959), S. 9, zitiert nach Zschocke, Nina: Der Irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit. München 2006, S. 31.

2015 , Objekt, Glas bedruckt, Wandboard , 45 cm x 62 cm x 4 cm, 3-teilig

Bonbon I und II

Jana Müller
2015 , Glas, Textil, Schaunstoff , 50 x 65 x 30 cm, Ausstellungsansicht Kunstraum Düsseldorf

Schmutzige Wäsche (Brüssel)

Jana MüllerJana Müller

Jana Müller’s oeuvre explores memory, the cinematic, and storytelling, the human being between public and private space and the construction of identity lie at the heart of her works. The artist lays out clues and evidence that evoke numerous tales. For her work Dirty Laundry Jana Müller borrowed a container of dirty laundry from a hotel close to the exhibition space. the piece has an enormous sculptural presence, but it is also ephemeral and refers to intangibility. the dirty laundry symbolizes intimacy and seems full of secret stories. so the work is like an investigation of the human being. the sheets in a clean state mirror luxury, while in a dirty state they evoke disgust, until they are clean again. the container, used for the transportation of things, refers to a shift of contexts and to change — e.g. the change of value.
 
 
Marion Scharmann
, 2015

2015 , georderter Gittercontainer, benutzte Hotelwäsche , Ausstellungsansicht "BCC", Auktionshaus Lempertz, Brüssel

Black Doris

Jana MüllerJana MüllerJana Müller
2015 , Objekt, Glas, Textil, bedruckte Glasscheibe , 120 cm x 150 cm x 5 cm , Ausstellungsansicht "Open Studios", Kreuzhöfe, Braunschweig

Gib den Raben Futter

Jana Müller
2014 , Objekt, Glas, Textil, Schuhe , 100 cm x 120 cm , Ausstellingsansicht "Art Cologne", Köln

Sie hat zwei Seiten

Jana MüllerJana Müller
2014 , Objekt, Glas, Textil, Holz, Farbe , 70 cm x 58 cm x 75 cm , Ausstellungsansicht "Soft Power", Galerie m2a, Dresden

Taschen voller Glas

Jana MüllerJana MüllerJana Müller

Armreif, billig, Blumen, Duft, Fabel, Fahndung, Glimmer, Glamour, Gold, Klunker, Kopf, Nagel, Rechnung, Raufbold, Rummel, Schnauze, Schnulze, spitz, Stahl, Straße, vergeblich, Verheißung, Versprechen

2014 , Objekte, Handtaschen, Glas, Dimension und Präsentationsform variabel

The Ladies

Jana MüllerJana Müller
2013 , Objekt, Glas bedruckt , 108 cm x 160,5 cm, 2-teilig

OT_07032013

Jana Müller
2013 , Objekt, Glas, Textil , 80 cm x 110 cm x 8 cm

Never-Ending Story

Jana MüllerJana MüllerJana MüllerJana MüllerJana Müllerjana Müllerjana Müller

Ader, Bilder, Blender, Blinzeln, Bühne, Dekor, Faden, Fahrstuhl, Farbe, Frau, Gier, grau, Hand, Kante, Leder, Münze, Mütze, Nähte, Nussbaum, Presse, Rätsel, Ratten, Raub, rosa, Schichtung, Schicksal, Schirm, Schnäppchen, Schnitt, Schwindel, Spiegel, Träume, Trieb, Überwurf, Urteil, violett, Wände, weiß, Wengé, Zahnfleisch, zahm

Geschichten aus dem Off des Alltäglichen

Der Alltag ist durchsetzt mit kleinen Episoden des Grauenvollen, die in verschiedenen Dosierungen konsumiert werden können: sei es abends im Fernsehkrimi, im unerschöpflichen Vorrat des Internet, in der letzten Meldung auf dem Zeitungsaussteller oder im U-Bahn-Fernsehen. Was fasziniert an den Grenzbereichen des Normalen oder vielmehr dem Überschreiten seiner Grenzen? Jana Müllers Arbeit Blackout (2006) thematisiert diese Faszination weniger durch ein Zeigen oder Erzählen als durch ein Verdecken und Verschweigen. Die Künstlerin hat fünf Standbilder aus Alfred Hitchcocks Film Rope (1948, dt. Cocktail für eine Leiche) isoliert, vergrößert und produziert als C-Prints. Auf den Bildern sehen wir jeweils noch einen kleinen Ausschnitt des Schauplatzes – etwa einen Türrahmen, einige Gläser auf einem Tisch, eine verbundene Hand –, der Großteil aber wird verdeckt von einer dunklen Fläche, zum Beispiel dem Rücken einer Person oder dem Deckel einer Truhe. Für einen Moment wird uns das Geschehen entzogen, bleibt etwas vollständig im Dunkeln. Beim Dreh des Films arbeitete Hitchcock mit einem Trick, um sichtbare Schnitte vermeiden zu können: Rope wurde in Einstellungen von zehn Minuten Dauer (die maximale Länge einer Filmrolle) gedreht, welche jeweils mit Handlungen enden, die einen kurzen Moment lang die Kamera verdecken und ein schwarzes Bild erzeugen. Der Film erzählt von zwei jungen Männern, die einen gemeinsamen Freund ermorden. Im Anschluss geben sie eine Cocktailparty im Beisein der Leiche, die versteckt in einer Truhe liegt, von der jedoch nur die beiden Mörder sowie die Zuschauer wissen. Die Mörder führen ein nahezu störungsfreies Schauspiel der Normalität auf, laden Verwandte des Toten ein, denen die haarsträubende andere Seite dieser Normalität verborgen bleibt. Mit Jana Müllers Aneignung der Standbilder werden Aspekte vernehmlich, die sich wie ein roter Faden durch ihr Werk ziehen: das Interesse an der Grausamkeit unter dem Anschein des Alltäglichen, an den Gebieten jenseits sozialer Übereinkünfte und Regeln sowie an der Schaulust, der Lust am Verbrechen und dem Überschreiten von Grenzen.
 
Die Handlung des Films Rope ist für den Betrachter von Blackout nicht nachvollziehbar, stattdessen treffen wir auf ein Dauer-Off, das undurchdringlich bleibt. Aus der Bilderfolge der Handlung werden Einzelbilder, der Verlauf gerinnt zum Augenblick. Die im Film nur sekundenlange Verknappung der Bildinformation wird im Standbild zur absoluten Dunkelheit ohne Fortsetzung oder Auflösung. In seiner Abhandlung über das Kino schreibt Gilles Deleuze: „Zum einen bezeichnet das Off das, was woanders, nebenan oder im Umfeld, existiert; zum andern zeugt es von einer ziemlich beunruhigenden Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie existiert, sondern eher, daß sie ‚insistiert‘ oder ‚verharrt‘, ein radikaleres Anderswo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit.“[1] Die Arbeit Blackout nimmt das Insistieren und Verharren wörtlich, indem sie kurze Momente der Schwärze aus einer Folge von Bildern isoliert und zum Hauptmotiv macht. Dabei sehen wir nicht die vollständige Schwärze, sondern den Moment kurz bevor die Blindheit eintritt. Die Bilder führen uns das Hereinbrechen von etwas vor, das sich der Sichtbarkeit entzieht. An die Stelle von Repräsentation tritt die Imagination oder, wie der Künstler John Smith formulierte: „Das Monster im Horrorfilm ist immer weniger furchterregend, wenn man es sieht.“[2]
 
Die Brüchigkeit der Normalität und das unsichtbare, potenzielle Grauen direkt unterhalb der dünnen Schicht Alltag werden auch in Jana Müllers Arbeit TAGEBUCH eins (2005) thematisch. Sie besteht aus fünf Fotografien, einem Video sowie auf den Boden des Ausstellungsraumes geklebten, ineinander verschachtelten Grundrissen von drei Räumen. Drei der Fotografien zeigen den Inhalt von Schrankwänden und Schränken: verschiedene Gegenstände wie Bücher, eine gerahmte Fotografie, Nippes, dekorative Keramik und Gläser sind zu sehen sowie eine schwarzweiß gemusterte Damenjacke. Auffällig sind aber vor allem die klaffenden Lücken. Etwas scheint zu fehlen oder entfernt worden zu sein. Vielleicht würde das im Titel angesprochene und auf einer Fotografie erscheinende Tagebuch Auskunft geben – jedoch ist es nur als Fotografie im Raum anwesend, versehen mit einem Lineal, als sollte seine reale Größe festgehalten werden, wie bei einer Beweisaufnahme oder fotografischen Spurensicherung. Auf dem Tagebuch ist zu lesen „Sie sind verpflichtet, ordnungsgemäße Eintragungen vorzunehmen.“ Dazu handschriftlich die Initialen J. M. Ein anderes Foto im selben Format zeigt ein Haus – vielleicht stehen in dessen Räumen die fotografierten Schränke. Was ist hier geschehen? Hat Jana Müller eine Verbindung zu diesem Haus? Ist das Tagebuch ihres? Das im Loop präsentierte zweieinhalbminütige Video zeigt auf einem Fernseher älteren Datums einen weiteren, recht heruntergekommenen Schrank, dessen Tür sich nach einiger Zeit wie von Geisterhand öffnet und wieder schließt. Öffnet sich die Tür, gibt sie den Blick frei auf leere Schrankfächer – nur im untersten steht ein gefüllter, zugeschnürter Müllsack.
Jana Müller stellt hier verschiedene Elemente in einen Zusammenhang, der immer lückenhaft bleibt – es werden keine Informationen geliefert über das Haus, seinen Standort oder seine Bewohner, ebensowenig wie über die Gegenstände auf den Fotos, die großen Lücken, den geheimnisvollen Müllsack oder das Tagebuch. Statt einer abgeschlossenen Erzählung sehen wir uns konfrontiert mit Zeichen des Häuslichen, vermeintlich Vertrauten, die in dieser Anordnung eher unheimlich als anheimelnd wirken. Sigmund Freud beschreibt das Unheimliche als „jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“.[3] Weiterhin schreibt er: „[…] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist. […] das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“[4] Diesen Moment, in dem das Vertraute fremd und angsterregend wird, suchen die Arbeiten Jana Müllers auf, indem sie etwa wie hier das Häusliche, Private als potenziellen Schauplatz eines Verbrechens inszenieren. Tatsächlich handelt es sich bei dem Haus um Jana Müllers Elternhaus, das sie als „kriminalistisches Objekt“[5] inszeniert. Ein Ort der eigenen Vergangenheit wird in dieser quasi-dokumentarischen Bestandsaufnahme zu einem Ort der Rätsel, ungeklärten Vorfälle und des Unbehagens.
Dabei spielt TAGEBUCH eins selbst auf das aktive Positionieren von Objekten und Bildern in einer Ordnung an, die Bedeutung herstellt. Die Inschrift auf dem Tagebuch verweist auf die „ordnungsgemäßen Eintragungen“ – aber wie ist das im Zusammenhang mit einem Tagebuch zu verstehen, das doch der Niederschrift von Erlebnissen aus dezidiert subjektiver Perspektive dient? Die auf den Boden geklebten, verschachtelten Grundrisse der untersuchten Räume erinnern an Tatorterfassungen, an schematische Darstellungen, wie sie etwa Lars von Triers Film Dogville (2003) strukturieren, dessen Erzählung sich ohne weitere Ausstattung ausschließlich auf solchen Grundrissen entfaltet. In Dogville durchbricht das Monströse die fragile Oberfläche der durch gesellschaftliche Konventionen eingerichteten Normalität. Bei TAGEBUCH eins bleibt die Oberfläche intakt, steht aber unter genauer Beobachtung, erscheint verdächtig und brüchig.
 
Auch in der Installation Never Ending Story (2012) werden Zuschreibungen von Ordnung und Ordnungsbruch verhandelt. Zwischen schichtweise übereinanderliegenden Glasplatten sind präzise positionierte Kleidungsstücke zu sehen, wobei sich die Anordnung jeweils auch nach der selbst gesetzten Regel richtet, dass jede Platte genau waagerecht liegen muss. Jedes Ensemble beinhaltet mehrere Kleidungsstücke, die sich möglicherweise einer bestimmten Person zuordnen lassen. Eine Glasplatte bedeckt auch die oberste Kleidungsschicht, so dass das Glas die Objekte darunter zugleich sichtbar werden lässt, sie dem Griff entzieht und eine spiegelnde Oberfläche bietet, in der sich Raum, Betrachter und Objekt begegnen. Die Glasflächen betonen den Akt der Präsentation, des Ausstellens zum Zweck der Betrachtung und der sich daran anschließenden Interpretation. In einem Gespräch hat Jana Müller diese Objekte „Präparate“ genannt. Sie hebt damit den Aspekt der Untersuchung hervor, mikroskopisch, systematisch – die Kleidung erscheint als Beweis-, Erinnerungsstück oder Überrest und wird hier der prüfenden Betrachtung dargeboten. Seit 2009 hat sie solche Objekte immer wieder in verschiedenen Konstellationen in ihre Ausstellungen integriert. Sorgfältig stellt Müller die Kleidungsstücke zusammen, berücksichtigt Farben und Muster, integriert mal einen Teppich, mal einen Schal. Jedes „Präparat“ ist ein Bild oder spannt sich auf im Bereich zwischen Bild und Skulptur, zwischen Fläche und Körper – und zwischen einer formalen, abstrakten Struktur und einem möglichen Verweis auf eine reale Person, eine Begebenheit oder einen Ort. Die Kleidungsstücke lassen sich sozial, zeitlich und geografisch verorten, unter dem Glas liegen möglicherweise Spuren, Fragmente von Geschichten, die der Betrachter im Angesicht des eigenen im Glas reflektierenden Spiegelbildes erblickt. Die Auseinandersetzung muss über die Oberfläche erfolgen, ein Berühren oder näheres Untersuchen ist unmöglich. Das Glas schafft eine Grenze, trennt potenzielle Spuren gewaltsamer Ereignisse von der Normalität – diese Grenze jedoch kann in jedem Moment zerbrechen und die Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Verbrechen und Normalität aufheben.
An den Wänden um die Bodeninstallation hängen fünf großformatige Schwarzweißfotos hinter Glas, präsentiert auf Holzdekorplatten. Die Bilder zeigen Menschen, die ihr Gesicht vor der Kamera verbergen, nichts sehen, vor allem aber nicht gesehen werden wollen. Ihre Kleidung scheint aus den 1950er Jahren zu stammen, schriftliche Markierungen an den Rändern einiger Fotos weisen auf deren Herkunft aus Archiven. Tatsächlich fand Müller diese Aufnahmen in Archiven, sie zeigen Menschen im Gerichtssaal oder in dessen unmittelbarer Umgebung,[6] zu deren Haltungen die Künstlerin schreibt: „Die Personen versuchen, ihre Identität auf rührende Weise zu verstecken, hinter Taschen, Zeitungsblättern, übergezogenen Mänteln. Sie drehen sich weg, verkrümmen sich in seltsamen Choreografien, wie Figuren eines gesellschaftlichen Balletts.“[7] Die vor der Kamera verborgenen Gesichter fesseln unseren Blick, deuten auf Scham oder Angst. Im Zusammenhang mit den „Präparaten“ und ihren geisterhaften Andeutungen menschlicher Präsenz stellt sich die Frage nach Tätern und Opfern und nach den Verbrechen, die hier begangen wurden. In dem Aufeinandertreffen von Archivmaterial und den „Präparaten“, die als Reste fiktiver Geschichten ins Verhältnis zu den Fotografien gesetzt werden, stellt sich zudem die Frage nach der zeitlichen Verortung des fiktiven oder realen Geschehens. Sehen wir Spuren der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragen, vielleicht Teile von ungelösten Fällen, die wieder aufgerollt werden sollen, aber nicht zu einem Ende kommen? Die Arbeiten überbrücken den zeitlichen Abstand durch die simultane Anwesenheit von dokumenthaftem Bild und dem Bereich des Fiktiven zugehörigem „Präparat“ im Ausstellungsraum. Jana Müller produziert aus der Gegenwart heraus brüchige, vielschichtige Bild-Objekte, die von der grundsätzlichen Instabilität vergangener wie gegenwärtiger Konstellationen erzählen. Damit kommentiert die Installation auch die Sensationslust der Medien und ihrer Rezipienten, das Geschäft mit Gewalttaten und privaten Schicksalen, die medienwirksam in Schlagzeilen und Berichten vermarktet werden. Die Form der Präsentation der Fotografien unterstützt den sensationalistischen Beiklang dieser Aufnahmen: Das Glas, das Holzdekor und die Clips an den Rändern erinnern an Schmuckrahmen und deuten damit auf das voyeuristische Interesse am Verbrechen, auf die Lust am Gaffen, Gruseln und an skandalösen Neuigkeiten.
Dabei beschäftigen sich Jana Müllers Arbeiten nicht mit konkreten Verbrechen oder dem Verhältnis von Gut und Böse, sondern mit der potenziell anderen, unheimlichen Seite des Normalen. Sie schaffen eine Bühne für Geschichten, die sich im Imaginären abspielen. Der Betrachter wird Teil einer narrativen Struktur, sobald er den Ausstellungsraum betritt. Darauf verweist auch die Installation Sie irren sich (2011). Ein nicht angeschlossenes Mikrofon steht in einem Ständer vor einem Bilderrahmen, auf der anderen Seite befindet sich ein blauer Samtvorhang. In dem Bilderrahmen sehen wir eine stark vergrößerte Spielkarte, von der nur die Rückseite erkennbar ist. Im Ausstellungsraum bleibt der Vorhang geschlossen, das Mikrofon stumm und die Karte verdeckt – sprechend werden diese Elemente erst, wenn ein Betrachter die „Bühne“ betritt und Jana Müllers Entwicklung narrativer Optionen im Umgang mit Bildern, Objekten und Gesten verfolgt und interpretierend vorantreibt. Die resultierenden Geschichten handeln vielleicht von Bereichen des Irrationalen, des Verdrängten und Beunruhigenden – von subjektiven und kollektiven Ängsten, Erinnerungen und Fantasien, die im Off verharren und, sich jeder bildlichen Darstellung entziehen und gerade dadurch ihre Wirksamkeit entfalten.

Kathrin Meyer aus dem Katalog Jana Müller " So jung, so schön, so kriminell", The Green Box Verlag, 2013

[1] Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1 (Cinéma I. L’image-mouvement, 1983). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 34.
[2] „The monster in the horror film is always less frightening when you see it.“ „John Smith talking film with Cate Elwes. Trespassing beyond the frame“, in: John Smith Film and Video Works 1972–2002, London: Picture This Moving Image/Watershed Media Centre 2002, S. 67.
[3] Sigmund Freud, „Das Unheimliche“,http://www.gutenberg.org/files/34222/34222-h/34222-h.htm (abgerufen am: 31.10.2012).
[4] Ebd.
[5] Lilian Engelmann, „TAGEBUCH eins – Eine Installation von Jana Müller“, in: Bilder Nr. 201, Ausstellungsbroschüre, Wien: Fotogalerie Wien 2005, S. 10. In diesem Text wird ausführlich auf die Tatsache eingegangen, dass es sich bei dem gezeigten Haus um Jana Müllers Elternhaus handelt.
 
[6] Jana Müller im Gespräch mit Kathrin Meyer, 18.10.2012.
[7] Jana Müller in einer E-Mail an Kathrin Meyer, 2.12.2012.

2012 , Installation, sechs Fine-Art-Prints, Barytpapier auf Holzdekorplatten hinter Glas, je 140 cm x 200 cm , zwölf Bodenskulpturen, Glas, Textil, Dimension variabel , Ausstellungsansichten Städtische Galerie Nordhorn und Kunstverein Frankfurt/Main

Broken Love

Jana Müller

Absatz, Beute

2012 , Fotografie linker Schuh, 45 cm x 55 cm, gerahmt , Objekt rechter Schuh, Textil, Kunststoff, 25 cm x 7 cm x 15 cm

Nest

Jana Müller

Beil, Dielen, Geld, Hohlraum, Muster, Mutter, Schweigen, Sessel, Wahn

2012 , Objekt, Tapete, Holz, Textil , 85 cm x 120 cm x 7 cm, gerahmt hinter Glas

It is not over until the fat lady sings

Jana Müller
2012 , Video mit einem Klavierstück von Edward Grieg, Lyrische Stücke Nr. 12 , DVD, 1:30 min

Sie Irren sich

Jana MüllerJana Müller

Affengesicht, Blattgold, blau, Chaos, Eichentisch, Glücksspiel, Kalkül, Magier, Normen, Note, Ornament, Predigt, Risse, Samt, Schwindel, Spiegel, Spiel, Sockel, Sterne, Verlierer, violett, Vorhang, Wendung, Zirkus, Zwiespalt

Sie irren sich

Durch einen kulissenhaften Vorhang vom Rest des Raums abgetrennt, funktioniert die Installation „Sie irren sich“ noch deutlicher als ein Experimentierfeld, in welchem alternative Modi der Bedeutungsproduktion in Szene gesetzt werden. Objekte werden in Relation zueinander gesetzt, ohne dabei einen sich eindeutig erschließenden Zusammenhang zu bilden. Der Betrachter ist verstärkt auf sein eigenes Vorstellungsvermögen angewiesen.
 
In einem vergoldeten, profilierten Bilderrahmen ist eine stark vergrößerte Reproduktion der ornamentierten Rückseite einer Spielkarte zu sehen. Verwendet wird diese also nicht als ein Ready-made sondern ein Abbild. Dadurch rückt ihr zeichenhaft-symbolischer Gehalt noch stärker in den Vordergrund. In anderer Weise gilt das auch für den historisierenden, an Ahnengalerien erinnernden Porträtrahmen, der als Zeichen in ein anderes Repräsentationsregime transponiert ist. Während der Rahmen unseren Blick auf die Vergangenheit lenkt, kann die Spielkarte als Metapher für offene Fragen an die Zukunft gedeutet werden. Da sie jedoch nicht umgedreht werden kann, bleibt die vermeintlich bedeutungstragende Vorderseite verborgen. Eine potentielle Botschaft bleibt somit aus – oder zumindest haben wir keinen Zugang zu ihr.
 
Dadurch lässt die undurchdringliche, selbstreferentielle Kartenoberfläche einen Kommunikationsbruch entstehen, dem ein weiterer folgt. Denn der räumlich-situativen Logik von Jana Müllers mise en scène folgend ist das direkte Gegenüber der Spielkarte weniger der Betrachter selbst, als vielmehr ein auf sie ausgerichtetes Mikrofon, dessen Kabel allerdings abgeschnitten ist. Ein Gegenstand, der Kommunikation fördern sollte, ist hier eher dazu prädestiniert, sie zu erschweren oder sogar zum Stillstand zu bringen. Eine fehlende Aussage, ein stummes Mikrofon: Ein Raum potenzieller Ideengenerierung und –vermittlung scheint von einer Betriebsstörung betroffen zu sein. Möglicherweise ein Zeichen für eine Krise der vorherrschenden Fragestellungen und Kommunikationsmuster? Ein Aufruf dazu, diese aufzubrechen? Und wer „irrt sich“ eigentlich? Durch ihre lückenhafte und kommentarlose Inszenierung von Handlungs- und Bedeutungsstrukturen lässt die Installation doch keine Sinnfixierung zu. Und eben darin steckt ihre Sprengkraft.

Vanja Sisek, 2016
 

2011 , Installation, zwei Mikrofone mit Stativ, blauer Samtvorhang , zwei Fine-Art-Prints 50 cm x 70 cm und 70 cm x 100 cm gerahmt hinter Museumsglas

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